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Bahn: Ein Nachtsteward auf seiner letzten Fahrt

Foto: Jean-Pierre Ziegler

Letzte Nachtzugfahrt Holstein steigt aus

Die Bahn will keine Nachtzüge mehr. Die Österreichischen Bundesbahnen übernehmen das Material, nicht aber die Menschen. Übrig bleiben Leute wie Nachtsteward Joachim Holstein. Letzte Fahrt mit einem, der aussteigen muss.

Joachim Holstein greift zu dem schwarzen Hörer an der Wand: "Guten Abend, sehr geehrte Fahrgäste", sagt er. Drei Minuten lang redet er, als wäre es eine Fahrt wie jede andere - dann hält er inne. Holstein nimmt seine Brille ab, die Augen sind wässrig. Er schnauft durch. "Danke, dass Sie seit Jahrzehnten unsere Kunden sind. Wie Sie wissen, werden die Österreichischen Bundesbahnen die Linien übernehmen." Bei "übernehmen" bricht seine Stimme.

Die Österreichischen Bundesbahnen übernehmen: 42 Schlafwagen, 15 Liegewagen, sechs Strecken, vier davon als Autoreisezüge samt Waggons. Sie übernehmen nicht: Joachim Holstein. Holstein, seit 21 Jahren Nachtsteward, 56 Jahre alt, muss aussteigen.

Seine letzte Fahrt beginnt um 20.14 Uhr in Hamburg-Altona. Er kommt 45 Minuten früher an, hinter sich einen orangen Koffer, vor sich die Strecke Hamburg-München und zurück. Holstein versorgt heute die Gäste in Wagen 19, ein Schlafwagen mit zwölf Abteilen. Er steuert zuerst die Galley an, so nennen die Stewards die Küche im Waggon, so klein wie eine Abstellkammer. Darin: Kaffeekocher, Kühlschrank, Mikrowelle, viele Schränke. Holstein, knapp 1,90 Meter groß, füllt den Raum fast aus, sein kugelrunder Bauch stößt an die Arbeitsplatte vor ihm.

Er hängt sein Sakko an den Bügel, dann: Kontrollgang. "Mal sehen, ob die Putzer gut gearbeitet haben." "Putzer", das sind die Kollegen im Abstellbahnhof Langenfelde, die den Zug säubern und vorbereiten. Er streift durch jedes Abteil. Am Ende des Gangs trifft er die Kollegen. "Stört es jemanden, wenn ich ansage, dass das meine letzte Fahrt ist?", fragt Holstein. "Wenn Sie nicht ausschweifen und erzählen, was vor 20, 30 Jahren war, dann ist es okay", antwortet der Zugführer.

"Wie geht's weiter?"

Was vor 21 Jahren war: Holstein liest einen Zettel an der Hamburger Uni. "Kennbuchstabe M, Hamburg 50, Nachtsteward" stand darauf. Übersetzt heißt das: Die Firma Mitropa sucht einen Mitarbeiter für Schlaf- und Liegewagen, ab Hamburg-Altona. 14 Mark Grundlohn, 40 Stunden im Monat, Touren nach München und Stuttgart. Holstein steigt ein und nach einigen Stunden wieder aus. Sein Herz lässt er im Waggon.

20.14 Uhr: Der Schaffner pfeift, die Türen fallen zu. Der City Night Line 40479 fährt los und verlässt Altona. Holsteins letzte Tour beginnt.

Eine halbe Stunde später verlässt der Zug Hamburg-Harburg. Holstein holt zwei Flaschen Merlot aus dem Kühlschrank für ein Paar, das erste Klasse gebucht hat. Der Mann, Anfang 40, Rollkragenpulli und dunkles Brillengestell, fragt: "Wie geht's mit Ihnen weiter?"

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Bahn: Ein Nachtsteward auf seiner letzten Fahrt

Foto: Jean-Pierre Ziegler

"Gestern habe ich meine Abfindung abgelehnt, neun Monatsgehälter, das ist nichts. Vielleicht ende ich als Bahnsteigreiniger. Einer 64-jährigen Kollegin haben sie vorgeschlagen, eine Ausbildung zur Triebwagenführerin zu machen, 14 Monate vor der Rente", sagt Holstein.

Hundert Jahre und einen Tag vor Holsteins letzter Fahrt wurde die Mitteleuropäische Schlafwagen- und Speisewagen AG gegründet, kurz Mitropa. Sie wuchs über die Jahrzehnte, fütterte Reisende in Hotels, Raststätten, Speisewagen.

1994, ein Jahr bevor Holstein dazustieß, versorgten 6000 Mitarbeiter ihre Gäste, die 900 Millionen D-Mark im Jahr ausgaben. Die Züge fuhren auf Dutzenden Strecken, in den Speisewagen gab es Porzellangeschirr. Was davon übrig ist: die DB European Railservice, 300 Mitarbeiter, elf Strecken, 90 Millionen Euro Umsatz. Aus dem Speisewagen wurde die Galley, aus Porzellan Pappe.

Früher war alles besser - diesen Satz sagt Holstein nicht. Aber er meint ihn, wenn er erzählt, dass den Kunden der Kakao nicht schmeckt. Früher, sagt er, hatten wir einen von Nesquik, der war gut. Aber irgendwann zu teuer für die Bahn. Früher hingen noch Deutschlandkarten in den Abteilen, da konnte man den Gästen alles zeigen.

Früher gab es eine Liege auf dem Gang. Nachts konnte Holstein die Liege ausklappen und dösen. Wenn es rumpelte, öffnete er kurz seine Augen. Sogar ein Tischchen hatte er, darauf lagen seine Unterlagen fürs Studium. Holstein studierte Spanisch, britische und deutsche Literatur. Abschluss: 1998, ein Tag vor seinem 37. Geburtstag. Holstein war schon drei Jahre Nachtsteward, bevor er Magister wurde.

Warum Holstein seinen Job mag? Weil er morgens durchs Fenster die Hirsche im Nebel sehen kann. Weil er nicht still stehen kann, auch nicht bei seinen Durchsagen. Er bewegt seine Füße vor und zurück, es sieht aus, als würde er mit dem Hörer in der Hand Tango tanzen. Weil er Bahnfahren liebt, schon als Jugendlicher fuhr er wochenlang durchs Land. In manchen Monaten 12.000 Kilometer, mit dem Tramper-Ticket, eine Art Interrail für Westdeutschland. 80 Prozent der Strecken, sagt er, kannte er in den Achtzigern.

Aufhören oder mit weniger Gehalt weitermachen

23 Uhr, der Zug verlässt Kassel. Es wird langsam ruhiger. Bis Stuttgart gibt es jetzt keinen Halt mehr, in den nächsten fünf Stunden kann Holstein auch mal Pause machen. In der Galley hängt ein Zettel, auf dem Weckzeiten stehen und wer Kaffee will oder Kakao.

Ein Kollege kommt vorbei, hat Fragen zu seinem Vertrag - und die Galley wird kurz zum Betriebsratsbüro. Holstein nimmt einen Kuli und schreibt auf: Aufhebungsvertrag, Neuorientierungsvertrag, Operation eins, Operation zwei. "Niemand ist so tief drin wie Holstein", sagt eine Kollegin über ihn. Er ist Vizevorsitzender des Betriebsrats der DB European Railservice. Seit Wochen kämpft er für einen sanften Tod seiner Firma. Er sitzt in Verhandlungen, manchmal sind es 14 am Tag. Er tröstet am Telefon, manchmal eine Dreiviertelstunde.

Holsteins 300 Kollegen haben zwei Möglichkeiten: aufhören - mit einer Abfindung, die er als mager bezeichnet. Oder weitermachen bei der Beschäftigungsgesellschaft DB Jobservice - mit Einbußen von bis zu 30 Prozent, sagt Holstein. "Als sie die Verträge sahen, musste mancher Kollege schon schlucken." Eine Sprecherin der Bahn sagt: "Unser klares Ziel ist es, die Auswirkungen für die Mitarbeiter der ERS möglichst gering zu halten."

Die Auswirkungen sind nicht gering - nicht für Joachim Holstein. Das spürt er, wenn er die SMS eines Freundes liest, der ihn fragt, wie es ihm vor seiner letzten Tour geht. Beim Lesen hatte er einen Kloß im Hals, erzählt Holstein. Einen Tag vor der letzten Fahrt sagt er: "Ich weiß nicht, in welcher Stimmung ich das überstehe."

"Die Bahn rechnet den Nachtzug schlecht"

Es ist spät, nach Mitternacht, und Holstein sitzt in einem Ruheabteil für das Personal und erzählt von seinem Kampf. Der begann 2008, als die Bahn die Strecke Hamburg-Paris strich. Im Dezember 2015 gab die Bahn schließlich bekannt, aus dem Geschäft auszusteigen. Die Kosten seien zu hoch, die Verluste seit Jahren im zweistelligen Millionenbereich. Nur noch 1,3 Millionen Menschen nutzten die Züge, ein Prozent aller Fernreisenden. Der Nachtzug sei ein Nischengeschäft.

"Die Aussagen des Konzerns weichen dermaßen von der Realität ab", sagt Holstein. Es ist ein Uhr morgens, Holstein spricht von Servicepauschalen, Auslastungsquoten, Trassengebühren, Betriebskosten. Er sagt, dass die Bahn den Zug schlecht rechne. Indem sie die Gäste in Sitzwagen nicht mitzähle, indem sie das Defizit größer mache, als es ist - Vorwürfe, die die Bahn dementiert.

Holstein saß als Sachverständiger im Verkehrsausschuss des Bundestags, schrieb eine Stellungnahme mit 23 Seiten. Noch auf seiner letzten Tour verteilt er unter den Gästen eine Zeitschrift, in der es um die Rettung der Nachtzüge geht. Er lädt sie zu einer Demonstration am 10. Dezember in Berlin ein. Der Tag, an dem die letzten Nachtzüge der Deutschen Bahn rollen. Der Tag, an dem Holsteins Job nach Österreich verschwindet.

Gibt es auch ein Leben außerhalb des Nachtzugs? Holstein lacht. Natürlich, sagt er, seine Bücher. Und sein Hund, ein Norfolk Terrier, "siebeneinhalb Kilo Fröhlichkeit".

"Danke für den Service"

4.55 Uhr - in der Galley duftet es nach Kaffee, nach Pfefferminztee und Darjeeling. Vor Holstein stehen zwei Dutzend Pappschachteln, sein Nachtwerk. Er hatte keine zwei Stunden Schlaf, dann sortierte er Brötchen und Brioche, Marmelade und Käse in die Boxen. Sie sehen aus wie kleine Geschenke. Bevor Holstein sie überbringt, öffnet er um 5.25 Uhr die zweite Flasche Mezzo Mix.

Der Zug erreicht München um kurz nach sieben. Die Gäste steigen aus, Holstein auch. "Danke für den Service, spitzenmäßig. Die Bahn weiß gar nicht, was sie tut, wenn sie solche Mitarbeiter entlässt", sagt ein Mann.

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Foto: ÖBB Heiderklausner

Holstein packt seine Sachen in den orangen Koffer und geht auf dem Bahnsteig in Richtung Freizeit. Er wird acht Stunden schlafen an dem Tag, er wird shoppen und einen Weihnachtsmarkt besuchen. Um 22 Uhr steht er auf dem Bahnsteig, bereit für die Rückfahrt seiner letzten Schicht.

Mehr als zehn Stunden später guckt Joachim Holstein aus dem Fenster, draußen zieht das Gebäude der Hamburger Universität vorbei. Dort begann seine Karriere, dort fand er den Zettel mit der Stellenausschreibung. Ein Kollege kommt vorbei, auch er wird seinen Job verlieren. Warum sind Wein und Wasser eigentlich umsonst für die Kunden der ersten Klasse, fragt er, das sind hochgerechnet mindestens 10,40 Euro, die der Konzern herschenkt.

Arie in der Nacht

Holstein sagt, dass er es für möglich hält, dass die Bahn wieder einsteigt in das Geschäft. "Stuttgart 21 galt auch einmal als tot", sagt er. Die EM 2020, die in 13 europäischen Ländern stattfindet, könne ein Anlass sein, wieder einzusteigen. Holstein sagt aber auch: "Für mich ist das die Abschiedsfahrt." Er will bei der Bahn bleiben, aber welchen Job der Konzern ihm anbieten wird, weiß Holstein noch nicht.

Wenn man Holstein fragt, was ihm fehlen wird, sagt er zuerst: das Fahren an sich. Dann sagt er: der Kontakt zu den Leuten. "Im Nachtzug unternimmt man gemeinsam ein Abenteuer, auch wenn es nur zehn Stunden dauert." Holstein erzählt von der Opernsängerin aus Asien, die vor ihm sang, weil sie wissen wollte, wie ihre Aussprache klingt. Er erzählt von der WM 2006, bei der er mit einem Fußballfan aus Argentinien sein FC-St.-Pauli-Trikot tauschte. Er bekam eines von dem Nationalspieler Juan Román Riquelme. "Es war das Einzige, das passte", sagt Holstein und lacht.

Kurz vor 9 Uhr, der Zug hat Hamburg-Altona erreicht. Holsteins letzter Kunde steckt ihm fünf Euro zu. "Vielen Dank, bis zum nächsten Mal", sagt der Mann. "Für mich gibt es kein nächstes Mal", sagt Holstein.

Er geht wieder in den Zug, noch mal in die Galley. Er wischt mit einem gelben Lappen über die Stahlfläche. Dann packt er Pappkartons und Abrechnungen zusammen, verlässt die kleine Küche. Er geht in sein Abteil. "Sie brauchen noch Zeit, Holstein?", ruft sein Chef von draußen. "Jaha, ich komme gleich", sagt Holstein. Er packt seinen Koffer und steigt aus.

Auf dem Bahnsteig sagt er ins Funkgerät: "Wagen 19 ist fertig." Dann drückt er auf den roten Knopf, die Tür geht zu, Luft entweicht. Es klingt, als würde der Zug seufzen.